«Fremde Nähe» – Soziologische Begegnungen auf dem Bahnhof

WINTERTHUR – Angewandte Soziologie, City-Day, Bahnhof Winterthur. Stufe 1: Menschen beobachten, die auf dem Bahnhof auf- und abgehen. Sich in fremde Personen hineinfühlen. Deren Gesichter lesen, deren Gang und Kleidung. Ihnen Namen, Berufe und Geschichten geben. Stufe 2: Mit einer fremden Person ins Gespräch kommen. Sich beraten lassen, was man in Winterthur auf keinen Fall verpassen sollte. Schrittweise persönlicher werden. Stufe 3: Im weiteren Verlauf des Tages Gelegenheiten erkennen und nutzen, um in Kontakt zu kommen. Beim Nachfüllen der Wasserflasche. Beim Besichtigen einer Wohnsiedlung. Um im günstigsten Fall in der Wohnung einer fremden Person zu landen.
Vertrauen auf den ersten Blick
«Ich war erstaunt, wie schnell und tief ein Gespräch mit einer fremden Person verlaufen kann», schreibt Olivia Soller in ihrer Reflexion. «Die Aufgabe, mit einer fremden Person aus dem nichts heraus ein Gespräch zu führen, hörte sich am Anfang nach einer Challenge an. Als mir der ältere Mann ins Auge fiel, hatte ich irgendwie ein gutes Gefühl. Er lächelte, als ich ihn fragte, ob der Platz neben ihm frei sei und antwortete: "Natürlich!". Zuerst wurde ich wieder etwas unsicher, aber dann wendete ich mich zu ihm und fragte ihn, ob er mir erzählen möchte, was er heute vorhabe. Ab diesem Moment strahlte er und begann mir zu erzählen.
Gesprächs-Domino
Das Gespräch wurde schnell sehr tiefgründig und es erstaunte mich, wie ein Gespräch von etwa sieben Minuten Dauer homo- und heterosexuelle Beziehungen, Frauenrechte, Gleichberechtigung, (Ex-)Beziehungen, Eifersucht, männlicher Hormonhaushalt, Aufkommen/Entstehung des Catcalling oder politische Meinungen behandeln konnte. Ich war auch erstaunt, wie offen der 73-jährige war und wie er einfach drauflosredete, als hätte ich den ersten Dominostein angestossen und das Gespräch ins Laufen gebracht.»
Mark Riklin, 04.07.2025